Rezension
Pizzicato 03/2002 | Rémy Franck | March 1, 2002
Überraschungen mit Kubelik
Es ist doch erstaunlich, wie anders Kubelik Mahler live dirigiert, anders als die anderen Dirigenten, anders als er selbst in der Studioaufnahme. Auch in dieser Dritten Symphonie überrascht er uns anderthalb Stunden lang. Gleich im ersten Satz ist alles weniger entschieden, weniger streng, als wir es gewöhnt sind. Kubelik spürt dem Detail nach, mit immenser Spannung, sehr tonmalerisch, sehr menschlich, sehr lyrisch, ja sogar sehr sentimental, sehr emphatisch, ohne Härte. Das Szenario der Abgründigkeit wird ironisch umspielt, als wolle Kubelik die Unwirklichkeit des Einen wie des Anderen unterstreichen. Und gerade aus dieser Dialektik ergibt sich die Unheimlichkeit der Musik, die uns ratlos zurücklässt. Was wollte Mahler denn nun sagen? Die transparenteste Musik wirkt hier so wenig transparent in ihrer Aussage. Gerade weil Kubelik auf fast naive Art und Weise so explizit im Detail ist, wird das Ganze zum Problem der Widersprüchlichkeit. Die ganze erste Abteilung ist eine Frage, auf welche die zweite Abteilung Antworten bringt, jedoch so verschiedene, dass sie uns als Katalog hingelegt werden, aus dem wir dann auswählen können, je nach Charakter, sicher auch je nach Stimmung. Und für Stimmungen sorgt Kubelik in grandioser Manier.
Darum: Eine essentielle Mahler-Deutung, die sich jedem, der sich ernsthaft mit Mahler auseinandersetzen will, geradezu aufdrängt.