Ihre Suchergebnisse (462 gefunden)

Fono Forum

Rezension Fono Forum 4/01 | Gregor Willmes | April 1, 2001 Mahler ohne Manierismen

Im August jährt sich der Todestag von Rafael Kubelik zum fünften Mal. Die kleine, aber feine Schallplattenfirma audite pflegt sein Andenken besonders, indem sie kontinuierlich Rundfunkmitschnitte des bedeutenden Dirigenten erstmals auf Tonträger präsentiert. Gregor Willmes hat die bei audite erschienenen Mahler-Aufnahmen mit denen der legendären Gesamteinspielung für die Deutsche Grammophon verglichen.
Der Durchbruch Gustav Mahlers fand nicht im Konzertsaal statt. Zwar gab es nach seinem Tod einige Dirigenten, die wie Willem Mengelberg, Otto Klemperer und Bruno Walter Mahler noch kennen gelernt hatten und sich nachdrücklich auch im Konzertsaal für seine Sinfonien einsetzten. Doch verdankt Mahler mit Sicherheit seine Popularität zum großen Teil der Stereo-Schallplatte. Seine Sinfonien schienen wie geschaffen dazu, die Möglichkeiten der Studio-Technik darzustellen. So klingen die riesigen Sinfonien auf Tonträger oftmals sogar transparenter, als sie es im Konzertsaal je vermögen.
Leonard Bernstein war der erste, der Mitte der 60er Jahre mit dem New York Philharmonic für CBS (heute Sony) eine Gesamtaufnahme der Mahlerschen Sinfonien schuf, allerdings ohne das Adagio der unvollendeten Zehnten. Ihm folgte Rafael Kubelik, der mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zwischen 1967 und 1971 im Herkules-Saal der Münchener Residenz alle Neune und den Adagio-Satz der Zehnten aufzeichnen ließ. Nur kurze Zeit später erschienen noch Gesamtaufnahmen von Bernard Haitink (Philips) und Georg Solti (Decca).
Ingo Harden zog im Dezember 1971 im Fono Form folgendes Fazit bezüglich der Kubelik-Aufnahmen: "Alles in allem: Der zweite vollständige Mahler-Zyklus hat in der Reihe der Mahler-Interpretationen der Gegenwart sein durchaus eigenes Profil, da sich von Bernsteins Aufnahmen durch ein Weniger an Leidenschaft und Pathos, ein Mehr an orchestraler Detailarbeit, einen helleren Grundton und eine emotional mehr den Mittelkurs haltende Darstellung unterscheidet." Harden stellte das Bild von Kubeliks "böhmischen Musikantentum" infrage, ohne es ganz abzustreiten, lobte darüber hinaus besonders die "sehr subtil und genau alle Klangfarben der Partituren aufschlüsselnden Aufführungen". In beidem ist Harden wohl Recht zu geben, wobei man nach meinem Dafürhalten allerdings Kubeliks tschechischen Wurzeln auch nicht unterschätzen soll, obwohl er sich (worauf Francis Drésel in seinem Aufsatz "Rafael Kubelik - Musiker und Poet" überzeugend hingewiesen hat) wie Mahler nach und nach "germanisiert" hat.
Rafael Kubelik wurde am 29. Juni 1914 in Bychorie bei Prag als Sohn des berühmten Geigen-Virtuosen Jan Kubelik geboren. Er studierte am Konservatorium in Prag Geige, Klavier, Dirigieren und Komposition. Er zählte also zu jener Kategorie von Mahler-Dirigenten, die wie Furtwängler und Klemperer oder wie später Bernstein und Boulez auch als Komponisten hervorgetreten sind. Das lässt vielleicht einerseits besser verstehen, warum Kubelik die musikalischen Zusammen hänge in Mahlers komplexen Sinfonien so einleuchtend darstellen konnte. Andererseits sagt das Komponisten-Dasein allein wieder auch nicht so viel über den Interpretationsstil aus, wenn man etwa an die Unterschiede zwischen Bernsteins expressivem und Boulez' analytischem Zugriff auf Mahler denkt.
Rafael Kubelik lernte Mahlers Sinfonien bereits in seiner Jugend in Prag kennen, zumeist dirigiert von Vaclav Talich,
aber auch von Gastdirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Für Kleibers Aufführung von Mahlers siebter Sinfonie leitete der 24-jährige Kubelik 1938 sogar die ersten Proben mit der Tschechischen Philharmonie.
Schnell machte Kubelik Karriere: 1939 wurde er Musikdirektor der Oper in Brünn, 1942 Leiter der Tschechischen Philharmonie. Später übernahm er Chefpositionen beim Chicago Symphony Orchestra und an den Opernhäusern Covent Garden London und Metropolitan New York. Seine zweite Heimat - nach Prag - wurde allerdings München, wo er von 1961 bis 1971 als Chefdirigent und noch bis 1985 als regelmäßiger Gast das Orchester des Bayerischen Rundfunks zu außergewöhnlichen Erfolgen führte.
Laut Erich Mauermann, dem damaligen Orchesterdirektor, war Kubelik der erste Dirigent der in München einen kompletten Mahler-Zyklus durchführte. Da er Mahlers Werke immer wieder auf den Spielplan setzte, sind einige Konzertmitschnitte erhalten, die jetzt nach und nach bei audite auf CD erscheinen. Friedrich Mauermann, Bruder von Erich Mauermann und mittlerweile in den Ruhestand getretener Ex-Chef von audite Schallplatten, hat die Reihe initiiert und dabei auf das Archiv des Bayerischen Rundfunks zurückgegriffen. Bei den Sinfonien eins, zwei und fünf hatte er sogar jeweils die Auswahl zwischen zwei verschiedenen Mitschnitten. "Wenn mehrere Aufnahmen derselben Sinfonie vorhanden waren", so Mauermann, "habe ich immer die jüngere genommen. Einerseits wegen des besseren Klangbildes, andererseits wegen der musikalischen Qualität. Die Gesamtzeiten der jüngeren Aufnahmen sind generell länger als die der älteren. Die Musik atmet mehr."
Die bisher veröffentlichten Mitschnitte der Sinfonien eins, zwei, fünf, sieben und neun stammen aus den Jahren 1975 und 1982 und wurden bis auf die neunte alle im Münchner Herkules Saal aufgenommen. Folgen sollen noch Mitschnitte der Sinfonien drei (1967) und sechs (1968), ebenfalls aus dem Herkules-Saal.
Somit stammen die bis jetzt vorliegenden Aufnahmen aus einer Zeit, die nach den Grammophon-Aufnahmen liegt. Und sucht man nach grundsätzlichen interpretatorischen Unterschieden, so stößt man zuerst auf die von Mauermann erwähnten langsameren Tempi der späteren Fassungen. Die "beiläufige" Schnelligkeit, die man den DG-Einspielungen bisweilen vorgeworfen hat, sind abgelegt. Vor allem in den Adagio- und Andante-Sätzen wählt Kubelik in späteren Jahren langsamere Tempi, beispielsweise im dritten Satz der ersten Sinfonie, aufgenommen am 2. November 1979. "Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen" lautet die Satzbezeichnung, die Kubelik genau beachtet. Wunderbar baut er die Spannung auf, spielt das Crescendo aus, das allein durch das ständige Hinzutreten neuer Instrumente erreicht wird. Das Oboensolo ist überaus deutlich phrasiert, bildet im betonten Staccato einen Kontrapunkt zum Legato der Streicher. Das Parodistische des Satzes ist wesentlich besser getroffen als in der DG-Einspielung. Auch das "Ziemlich langsam" (Ziffer 5) wirkt in sich schlüssiger, man meint auf einmal einen Spielmannszug oder eine Klezmer-Kapelle zu hören.
Herrlich sind auch die ersten beiden Sätze des audite-Mitschnitts gelungen: "Wie ein Naturlaut" - kaum ein Dirigent
dürfte Mahlers Vorstellungen beim Beginn des ersten Satzes wohl so gut getroffen haben wie Kubelik in diesem Konzert. Dass die Stelle hier wesentlich überzeugender wirkt als in der DG-Einspielung, liegt auch in der Aufnahmetechnik begründet. Bei der Grammophon klingen die Stimmen isolierter, in der späteren Rundfunk-Aufnahme verschmelzen sie stärker: Das mindert etwas den analytischen Ansatz, verstärkt jedoch die Unmittelbarkeit der Naturstimmung. Hinzu kommt, dass das Orchester, besonders die Bläser, in der späteren Aufnahme noch souveräner wirken als in der ersten. Dass es sich um einen Konzertmitschnitt handelt, geht nirgendwo auf Kosten der künstlerischen Qualität. Das spricht für eine intensive Probenarbeit.
Die wesentlich bessere Aufnahmetechnik ist übrigens ein Charakteristikum, das fast alle audite-Produktionen auszeichnet. Die Konzertmitschnitte besitzen mehr räumliche Tiefe. Während die DG-Aufnahmen sehr auf Transparenz bedacht sind und immer wieder einzelne Instrumente oder Gruppen nach vorn ziehen, meint man bei den Rundfunkmitschnitten, wirklich ein Orchester im Saal der Residenz zu erleben. Und die Live-Aufnahme der neunten Sinfonie aus Tokios Bunka Kaikan Concert Hall klingt im Vergleich deutlich flacher als die Münchner Aufnahmen.
Was Kubeliks Mahler-Aufnahmen auch noch denen bei audite - gelegentlich fehlt, das ist die mitreißende Kraft, mit der sich etwa Bernstein in die schnellen Sätze warf. Das Finale der ersten Sinfonie ("Stürmisch bewegt") beispielsweise oder der zweite Satz der ansonsten interpretatorisch überzeugenden fünften ("Stürmisch bewegt, mit größer Vehemenz") weisen in dieser Hinsicht Defizite auf.
Den stärksten Eindruck der audite-Mitschnitte hinterlassen nicht zufällig jene Sinfonien, die solche Satzcharaktere
weitesgehend aussparen: die zweite und die siebte Sinfonie. So war der 8. Oktober 1982 ein wirklicher Glückstag für die Geschichte der Mahler-Interpretation. Denn Kubelik dirigierte die zweite an diesem Tag wie aus einem Guss: Alles fließt, nichts wirkt forciert im Allegro maestoso. Ein ungemein feinsinniges, schwereloses Musizieren zeichnet das Andante aus. Herrlich setzt Kubelik das Scherzo um. Das böhmisch-mährische Musikantentum - dem Ingo Harden einst so zweifelnd gegenüberstand - ist hier prächtig zu finden. Die Fischpredigt hält Kubelik leider nicht ganz so ironisch wie Bernstein. Dafür hat er mit Brigitte Fassbaender einen Alt, der das "Röschen rot" mit hinreißendem Timbre und klarer, sinnhaltiger Artikulation versieht. Im hervorragend gesteigerten Finale bilden Edith Mathis und Brigitte Fassbaender ein Traumpaar.
Genauso überragend ist die gerade auf CD erschienene siebte Sinfonie gestaltet. Sehr organisch meisterte Kubelik am 5. Februar 1976 die ständigen Tempowechsel im ersten Satz. Zauberhaft, dunkel getönt kommen die Nachtmusiken auf CD daher. Das Scherzo nimmt von Anfang an gefangen und lässt den Hörer nicht mehr los. Selbst das apotheotische Finale, mit dem viele Dirigenten Probleme haben, klingt bei Kubelik sinnvoll. Das Pathos wirkt nicht übertrieben, aber die Zuversicht bleibt.
Fazit: Mit diesen Mahler-Veröffentlichungen ist audite ein großer Wurf gelungen. Und wer bei Kubelik auf den Geschmack gekommen ist, der kann bei demselben Label auch noch hervorragende Mitschnitte von Beethoven- und vor allem Mozart-Konzerten bekommen, die Clifford Curzon mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Kubelik in der Residenz gegeben hat. Aber Clifford Curzon ist schon wieder ein Thema für sich.
Fono Forum

Rezension Fono Forum 4/01 | Gregor Willmes | April 1, 2001 Mahler ohne Manierismen

Im August jährt sich der Todestag von Rafael Kubelik zum fünften Mal. Die kleine, aber feine Schallplattenfirma audite pflegt sein Andenken besonders, indem sie kontinuierlich Rundfunkmitschnitte des bedeutenden Dirigenten erstmals auf Tonträger präsentiert. Gregor Willmes hat die bei audite erschienenen Mahler-Aufnahmen mit denen der legendären Gesamteinspielung für die Deutsche Grammophon verglichen.
Der Durchbruch Gustav Mahlers fand nicht im Konzertsaal statt. Zwar gab es nach seinem Tod einige Dirigenten, die wie Willem Mengelberg, Otto Klemperer und Bruno Walter Mahler noch kennen gelernt hatten und sich nachdrücklich auch im Konzertsaal für seine Sinfonien einsetzten. Doch verdankt Mahler mit Sicherheit seine Popularität zum großen Teil der Stereo-Schallplatte. Seine Sinfonien schienen wie geschaffen dazu, die Möglichkeiten der Studio-Technik darzustellen. So klingen die riesigen Sinfonien auf Tonträger oftmals sogar transparenter, als sie es im Konzertsaal je vermögen.
Leonard Bernstein war der erste, der Mitte der 60er Jahre mit dem New York Philharmonic für CBS (heute Sony) eine Gesamtaufnahme der Mahlerschen Sinfonien schuf, allerdings ohne das Adagio der unvollendeten Zehnten. Ihm folgte Rafael Kubelik, der mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zwischen 1967 und 1971 im Herkules-Saal der Münchener Residenz alle Neune und den Adagio-Satz der Zehnten aufzeichnen ließ. Nur kurze Zeit später erschienen noch Gesamtaufnahmen von Bernard Haitink (Philips) und Georg Solti (Decca).
Ingo Harden zog im Dezember 1971 im Fono Form folgendes Fazit bezüglich der Kubelik-Aufnahmen: "Alles in allem: Der zweite vollständige Mahler-Zyklus hat in der Reihe der Mahler-Interpretationen der Gegenwart sein durchaus eigenes Profil, da sich von Bernsteins Aufnahmen durch ein Weniger an Leidenschaft und Pathos, ein Mehr an orchestraler Detailarbeit, einen helleren Grundton und eine emotional mehr den Mittelkurs haltende Darstellung unterscheidet." Harden stellte das Bild von Kubeliks "böhmischen Musikantentum" infrage, ohne es ganz abzustreiten, lobte darüber hinaus besonders die "sehr subtil und genau alle Klangfarben der Partituren aufschlüsselnden Aufführungen". In beidem ist Harden wohl Recht zu geben, wobei man nach meinem Dafürhalten allerdings Kubeliks tschechischen Wurzeln auch nicht unterschätzen soll, obwohl er sich (worauf Francis Drésel in seinem Aufsatz "Rafael Kubelik - Musiker und Poet" überzeugend hingewiesen hat) wie Mahler nach und nach "germanisiert" hat.
Rafael Kubelik wurde am 29. Juni 1914 in Bychorie bei Prag als Sohn des berühmten Geigen-Virtuosen Jan Kubelik geboren. Er studierte am Konservatorium in Prag Geige, Klavier, Dirigieren und Komposition. Er zählte also zu jener Kategorie von Mahler-Dirigenten, die wie Furtwängler und Klemperer oder wie später Bernstein und Boulez auch als Komponisten hervorgetreten sind. Das lässt vielleicht einerseits besser verstehen, warum Kubelik die musikalischen Zusammen hänge in Mahlers komplexen Sinfonien so einleuchtend darstellen konnte. Andererseits sagt das Komponisten-Dasein allein wieder auch nicht so viel über den Interpretationsstil aus, wenn man etwa an die Unterschiede zwischen Bernsteins expressivem und Boulez' analytischem Zugriff auf Mahler denkt.
Rafael Kubelik lernte Mahlers Sinfonien bereits in seiner Jugend in Prag kennen, zumeist dirigiert von Vaclav Talich,
aber auch von Gastdirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Für Kleibers Aufführung von Mahlers siebter Sinfonie leitete der 24-jährige Kubelik 1938 sogar die ersten Proben mit der Tschechischen Philharmonie.
Schnell machte Kubelik Karriere: 1939 wurde er Musikdirektor der Oper in Brünn, 1942 Leiter der Tschechischen Philharmonie. Später übernahm er Chefpositionen beim Chicago Symphony Orchestra und an den Opernhäusern Covent Garden London und Metropolitan New York. Seine zweite Heimat - nach Prag - wurde allerdings München, wo er von 1961 bis 1971 als Chefdirigent und noch bis 1985 als regelmäßiger Gast das Orchester des Bayerischen Rundfunks zu außergewöhnlichen Erfolgen führte.
Laut Erich Mauermann, dem damaligen Orchesterdirektor, war Kubelik der erste Dirigent der in München einen kompletten Mahler-Zyklus durchführte. Da er Mahlers Werke immer wieder auf den Spielplan setzte, sind einige Konzertmitschnitte erhalten, die jetzt nach und nach bei audite auf CD erscheinen. Friedrich Mauermann, Bruder von Erich Mauermann und mittlerweile in den Ruhestand getretener Ex-Chef von audite Schallplatten, hat die Reihe initiiert und dabei auf das Archiv des Bayerischen Rundfunks zurückgegriffen. Bei den Sinfonien eins, zwei und fünf hatte er sogar jeweils die Auswahl zwischen zwei verschiedenen Mitschnitten. "Wenn mehrere Aufnahmen derselben Sinfonie vorhanden waren", so Mauermann, "habe ich immer die jüngere genommen. Einerseits wegen des besseren Klangbildes, andererseits wegen der musikalischen Qualität. Die Gesamtzeiten der jüngeren Aufnahmen sind generell länger als die der älteren. Die Musik atmet mehr."
Die bisher veröffentlichten Mitschnitte der Sinfonien eins, zwei, fünf, sieben und neun stammen aus den Jahren 1975 und 1982 und wurden bis auf die neunte alle im Münchner Herkules Saal aufgenommen. Folgen sollen noch Mitschnitte der Sinfonien drei (1967) und sechs (1968), ebenfalls aus dem Herkules-Saal.
Somit stammen die bis jetzt vorliegenden Aufnahmen aus einer Zeit, die nach den Grammophon-Aufnahmen liegt. Und sucht man nach grundsätzlichen interpretatorischen Unterschieden, so stößt man zuerst auf die von Mauermann erwähnten langsameren Tempi der späteren Fassungen. Die "beiläufige" Schnelligkeit, die man den DG-Einspielungen bisweilen vorgeworfen hat, sind abgelegt. Vor allem in den Adagio- und Andante-Sätzen wählt Kubelik in späteren Jahren langsamere Tempi, beispielsweise im dritten Satz der ersten Sinfonie, aufgenommen am 2. November 1979. "Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen" lautet die Satzbezeichnung, die Kubelik genau beachtet. Wunderbar baut er die Spannung auf, spielt das Crescendo aus, das allein durch das ständige Hinzutreten neuer Instrumente erreicht wird. Das Oboensolo ist überaus deutlich phrasiert, bildet im betonten Staccato einen Kontrapunkt zum Legato der Streicher. Das Parodistische des Satzes ist wesentlich besser getroffen als in der DG-Einspielung. Auch das "Ziemlich langsam" (Ziffer 5) wirkt in sich schlüssiger, man meint auf einmal einen Spielmannszug oder eine Klezmer-Kapelle zu hören.
Herrlich sind auch die ersten beiden Sätze des audite-Mitschnitts gelungen: "Wie ein Naturlaut" - kaum ein Dirigent
dürfte Mahlers Vorstellungen beim Beginn des ersten Satzes wohl so gut getroffen haben wie Kubelik in diesem Konzert. Dass die Stelle hier wesentlich überzeugender wirkt als in der DG-Einspielung, liegt auch in der Aufnahmetechnik begründet. Bei der Grammophon klingen die Stimmen isolierter, in der späteren Rundfunk-Aufnahme verschmelzen sie stärker: Das mindert etwas den analytischen Ansatz, verstärkt jedoch die Unmittelbarkeit der Naturstimmung. Hinzu kommt, dass das Orchester, besonders die Bläser, in der späteren Aufnahme noch souveräner wirken als in der ersten. Dass es sich um einen Konzertmitschnitt handelt, geht nirgendwo auf Kosten der künstlerischen Qualität. Das spricht für eine intensive Probenarbeit.
Die wesentlich bessere Aufnahmetechnik ist übrigens ein Charakteristikum, das fast alle audite-Produktionen auszeichnet. Die Konzertmitschnitte besitzen mehr räumliche Tiefe. Während die DG-Aufnahmen sehr auf Transparenz bedacht sind und immer wieder einzelne Instrumente oder Gruppen nach vorn ziehen, meint man bei den Rundfunkmitschnitten, wirklich ein Orchester im Saal der Residenz zu erleben. Und die Live-Aufnahme der neunten Sinfonie aus Tokios Bunka Kaikan Concert Hall klingt im Vergleich deutlich flacher als die Münchner Aufnahmen.
Was Kubeliks Mahler-Aufnahmen auch noch denen bei audite - gelegentlich fehlt, das ist die mitreißende Kraft, mit der sich etwa Bernstein in die schnellen Sätze warf. Das Finale der ersten Sinfonie ("Stürmisch bewegt") beispielsweise oder der zweite Satz der ansonsten interpretatorisch überzeugenden fünften ("Stürmisch bewegt, mit größer Vehemenz") weisen in dieser Hinsicht Defizite auf.
Den stärksten Eindruck der audite-Mitschnitte hinterlassen nicht zufällig jene Sinfonien, die solche Satzcharaktere
weitesgehend aussparen: die zweite und die siebte Sinfonie. So war der 8. Oktober 1982 ein wirklicher Glückstag für die Geschichte der Mahler-Interpretation. Denn Kubelik dirigierte die zweite an diesem Tag wie aus einem Guss: Alles fließt, nichts wirkt forciert im Allegro maestoso. Ein ungemein feinsinniges, schwereloses Musizieren zeichnet das Andante aus. Herrlich setzt Kubelik das Scherzo um. Das böhmisch-mährische Musikantentum - dem Ingo Harden einst so zweifelnd gegenüberstand - ist hier prächtig zu finden. Die Fischpredigt hält Kubelik leider nicht ganz so ironisch wie Bernstein. Dafür hat er mit Brigitte Fassbaender einen Alt, der das "Röschen rot" mit hinreißendem Timbre und klarer, sinnhaltiger Artikulation versieht. Im hervorragend gesteigerten Finale bilden Edith Mathis und Brigitte Fassbaender ein Traumpaar.
Genauso überragend ist die gerade auf CD erschienene siebte Sinfonie gestaltet. Sehr organisch meisterte Kubelik am 5. Februar 1976 die ständigen Tempowechsel im ersten Satz. Zauberhaft, dunkel getönt kommen die Nachtmusiken auf CD daher. Das Scherzo nimmt von Anfang an gefangen und lässt den Hörer nicht mehr los. Selbst das apotheotische Finale, mit dem viele Dirigenten Probleme haben, klingt bei Kubelik sinnvoll. Das Pathos wirkt nicht übertrieben, aber die Zuversicht bleibt.
Fazit: Mit diesen Mahler-Veröffentlichungen ist audite ein großer Wurf gelungen. Und wer bei Kubelik auf den Geschmack gekommen ist, der kann bei demselben Label auch noch hervorragende Mitschnitte von Beethoven- und vor allem Mozart-Konzerten bekommen, die Clifford Curzon mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Kubelik in der Residenz gegeben hat. Aber Clifford Curzon ist schon wieder ein Thema für sich.
Fono Forum

Rezension Fono Forum 4/01 | Gregor Willmes | April 1, 2001 Mahler ohne Manierismen

Im August jährt sich der Todestag von Rafael Kubelik zum fünften Mal. Die kleine, aber feine Schallplattenfirma audite pflegt sein Andenken besonders, indem sie kontinuierlich Rundfunkmitschnitte des bedeutenden Dirigenten erstmals auf Tonträger präsentiert. Gregor Willmes hat die bei audite erschienenen Mahler-Aufnahmen mit denen der legendären Gesamteinspielung für die Deutsche Grammophon verglichen.
Der Durchbruch Gustav Mahlers fand nicht im Konzertsaal statt. Zwar gab es nach seinem Tod einige Dirigenten, die wie Willem Mengelberg, Otto Klemperer und Bruno Walter Mahler noch kennen gelernt hatten und sich nachdrücklich auch im Konzertsaal für seine Sinfonien einsetzten. Doch verdankt Mahler mit Sicherheit seine Popularität zum großen Teil der Stereo-Schallplatte. Seine Sinfonien schienen wie geschaffen dazu, die Möglichkeiten der Studio-Technik darzustellen. So klingen die riesigen Sinfonien auf Tonträger oftmals sogar transparenter, als sie es im Konzertsaal je vermögen.
Leonard Bernstein war der erste, der Mitte der 60er Jahre mit dem New York Philharmonic für CBS (heute Sony) eine Gesamtaufnahme der Mahlerschen Sinfonien schuf, allerdings ohne das Adagio der unvollendeten Zehnten. Ihm folgte Rafael Kubelik, der mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zwischen 1967 und 1971 im Herkules-Saal der Münchener Residenz alle Neune und den Adagio-Satz der Zehnten aufzeichnen ließ. Nur kurze Zeit später erschienen noch Gesamtaufnahmen von Bernard Haitink (Philips) und Georg Solti (Decca).
Ingo Harden zog im Dezember 1971 im Fono Form folgendes Fazit bezüglich der Kubelik-Aufnahmen: "Alles in allem: Der zweite vollständige Mahler-Zyklus hat in der Reihe der Mahler-Interpretationen der Gegenwart sein durchaus eigenes Profil, da sich von Bernsteins Aufnahmen durch ein Weniger an Leidenschaft und Pathos, ein Mehr an orchestraler Detailarbeit, einen helleren Grundton und eine emotional mehr den Mittelkurs haltende Darstellung unterscheidet." Harden stellte das Bild von Kubeliks "böhmischen Musikantentum" infrage, ohne es ganz abzustreiten, lobte darüber hinaus besonders die "sehr subtil und genau alle Klangfarben der Partituren aufschlüsselnden Aufführungen". In beidem ist Harden wohl Recht zu geben, wobei man nach meinem Dafürhalten allerdings Kubeliks tschechischen Wurzeln auch nicht unterschätzen soll, obwohl er sich (worauf Francis Drésel in seinem Aufsatz "Rafael Kubelik - Musiker und Poet" überzeugend hingewiesen hat) wie Mahler nach und nach "germanisiert" hat.
Rafael Kubelik wurde am 29. Juni 1914 in Bychorie bei Prag als Sohn des berühmten Geigen-Virtuosen Jan Kubelik geboren. Er studierte am Konservatorium in Prag Geige, Klavier, Dirigieren und Komposition. Er zählte also zu jener Kategorie von Mahler-Dirigenten, die wie Furtwängler und Klemperer oder wie später Bernstein und Boulez auch als Komponisten hervorgetreten sind. Das lässt vielleicht einerseits besser verstehen, warum Kubelik die musikalischen Zusammen hänge in Mahlers komplexen Sinfonien so einleuchtend darstellen konnte. Andererseits sagt das Komponisten-Dasein allein wieder auch nicht so viel über den Interpretationsstil aus, wenn man etwa an die Unterschiede zwischen Bernsteins expressivem und Boulez' analytischem Zugriff auf Mahler denkt.
Rafael Kubelik lernte Mahlers Sinfonien bereits in seiner Jugend in Prag kennen, zumeist dirigiert von Vaclav Talich,
aber auch von Gastdirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Für Kleibers Aufführung von Mahlers siebter Sinfonie leitete der 24-jährige Kubelik 1938 sogar die ersten Proben mit der Tschechischen Philharmonie.
Schnell machte Kubelik Karriere: 1939 wurde er Musikdirektor der Oper in Brünn, 1942 Leiter der Tschechischen Philharmonie. Später übernahm er Chefpositionen beim Chicago Symphony Orchestra und an den Opernhäusern Covent Garden London und Metropolitan New York. Seine zweite Heimat - nach Prag - wurde allerdings München, wo er von 1961 bis 1971 als Chefdirigent und noch bis 1985 als regelmäßiger Gast das Orchester des Bayerischen Rundfunks zu außergewöhnlichen Erfolgen führte.
Laut Erich Mauermann, dem damaligen Orchesterdirektor, war Kubelik der erste Dirigent der in München einen kompletten Mahler-Zyklus durchführte. Da er Mahlers Werke immer wieder auf den Spielplan setzte, sind einige Konzertmitschnitte erhalten, die jetzt nach und nach bei audite auf CD erscheinen. Friedrich Mauermann, Bruder von Erich Mauermann und mittlerweile in den Ruhestand getretener Ex-Chef von audite Schallplatten, hat die Reihe initiiert und dabei auf das Archiv des Bayerischen Rundfunks zurückgegriffen. Bei den Sinfonien eins, zwei und fünf hatte er sogar jeweils die Auswahl zwischen zwei verschiedenen Mitschnitten. "Wenn mehrere Aufnahmen derselben Sinfonie vorhanden waren", so Mauermann, "habe ich immer die jüngere genommen. Einerseits wegen des besseren Klangbildes, andererseits wegen der musikalischen Qualität. Die Gesamtzeiten der jüngeren Aufnahmen sind generell länger als die der älteren. Die Musik atmet mehr."
Die bisher veröffentlichten Mitschnitte der Sinfonien eins, zwei, fünf, sieben und neun stammen aus den Jahren 1975 und 1982 und wurden bis auf die neunte alle im Münchner Herkules Saal aufgenommen. Folgen sollen noch Mitschnitte der Sinfonien drei (1967) und sechs (1968), ebenfalls aus dem Herkules-Saal.
Somit stammen die bis jetzt vorliegenden Aufnahmen aus einer Zeit, die nach den Grammophon-Aufnahmen liegt. Und sucht man nach grundsätzlichen interpretatorischen Unterschieden, so stößt man zuerst auf die von Mauermann erwähnten langsameren Tempi der späteren Fassungen. Die "beiläufige" Schnelligkeit, die man den DG-Einspielungen bisweilen vorgeworfen hat, sind abgelegt. Vor allem in den Adagio- und Andante-Sätzen wählt Kubelik in späteren Jahren langsamere Tempi, beispielsweise im dritten Satz der ersten Sinfonie, aufgenommen am 2. November 1979. "Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen" lautet die Satzbezeichnung, die Kubelik genau beachtet. Wunderbar baut er die Spannung auf, spielt das Crescendo aus, das allein durch das ständige Hinzutreten neuer Instrumente erreicht wird. Das Oboensolo ist überaus deutlich phrasiert, bildet im betonten Staccato einen Kontrapunkt zum Legato der Streicher. Das Parodistische des Satzes ist wesentlich besser getroffen als in der DG-Einspielung. Auch das "Ziemlich langsam" (Ziffer 5) wirkt in sich schlüssiger, man meint auf einmal einen Spielmannszug oder eine Klezmer-Kapelle zu hören.
Herrlich sind auch die ersten beiden Sätze des audite-Mitschnitts gelungen: "Wie ein Naturlaut" - kaum ein Dirigent
dürfte Mahlers Vorstellungen beim Beginn des ersten Satzes wohl so gut getroffen haben wie Kubelik in diesem Konzert. Dass die Stelle hier wesentlich überzeugender wirkt als in der DG-Einspielung, liegt auch in der Aufnahmetechnik begründet. Bei der Grammophon klingen die Stimmen isolierter, in der späteren Rundfunk-Aufnahme verschmelzen sie stärker: Das mindert etwas den analytischen Ansatz, verstärkt jedoch die Unmittelbarkeit der Naturstimmung. Hinzu kommt, dass das Orchester, besonders die Bläser, in der späteren Aufnahme noch souveräner wirken als in der ersten. Dass es sich um einen Konzertmitschnitt handelt, geht nirgendwo auf Kosten der künstlerischen Qualität. Das spricht für eine intensive Probenarbeit.
Die wesentlich bessere Aufnahmetechnik ist übrigens ein Charakteristikum, das fast alle audite-Produktionen auszeichnet. Die Konzertmitschnitte besitzen mehr räumliche Tiefe. Während die DG-Aufnahmen sehr auf Transparenz bedacht sind und immer wieder einzelne Instrumente oder Gruppen nach vorn ziehen, meint man bei den Rundfunkmitschnitten, wirklich ein Orchester im Saal der Residenz zu erleben. Und die Live-Aufnahme der neunten Sinfonie aus Tokios Bunka Kaikan Concert Hall klingt im Vergleich deutlich flacher als die Münchner Aufnahmen.
Was Kubeliks Mahler-Aufnahmen auch noch denen bei audite - gelegentlich fehlt, das ist die mitreißende Kraft, mit der sich etwa Bernstein in die schnellen Sätze warf. Das Finale der ersten Sinfonie ("Stürmisch bewegt") beispielsweise oder der zweite Satz der ansonsten interpretatorisch überzeugenden fünften ("Stürmisch bewegt, mit größer Vehemenz") weisen in dieser Hinsicht Defizite auf.
Den stärksten Eindruck der audite-Mitschnitte hinterlassen nicht zufällig jene Sinfonien, die solche Satzcharaktere
weitesgehend aussparen: die zweite und die siebte Sinfonie. So war der 8. Oktober 1982 ein wirklicher Glückstag für die Geschichte der Mahler-Interpretation. Denn Kubelik dirigierte die zweite an diesem Tag wie aus einem Guss: Alles fließt, nichts wirkt forciert im Allegro maestoso. Ein ungemein feinsinniges, schwereloses Musizieren zeichnet das Andante aus. Herrlich setzt Kubelik das Scherzo um. Das böhmisch-mährische Musikantentum - dem Ingo Harden einst so zweifelnd gegenüberstand - ist hier prächtig zu finden. Die Fischpredigt hält Kubelik leider nicht ganz so ironisch wie Bernstein. Dafür hat er mit Brigitte Fassbaender einen Alt, der das "Röschen rot" mit hinreißendem Timbre und klarer, sinnhaltiger Artikulation versieht. Im hervorragend gesteigerten Finale bilden Edith Mathis und Brigitte Fassbaender ein Traumpaar.
Genauso überragend ist die gerade auf CD erschienene siebte Sinfonie gestaltet. Sehr organisch meisterte Kubelik am 5. Februar 1976 die ständigen Tempowechsel im ersten Satz. Zauberhaft, dunkel getönt kommen die Nachtmusiken auf CD daher. Das Scherzo nimmt von Anfang an gefangen und lässt den Hörer nicht mehr los. Selbst das apotheotische Finale, mit dem viele Dirigenten Probleme haben, klingt bei Kubelik sinnvoll. Das Pathos wirkt nicht übertrieben, aber die Zuversicht bleibt.
Fazit: Mit diesen Mahler-Veröffentlichungen ist audite ein großer Wurf gelungen. Und wer bei Kubelik auf den Geschmack gekommen ist, der kann bei demselben Label auch noch hervorragende Mitschnitte von Beethoven- und vor allem Mozart-Konzerten bekommen, die Clifford Curzon mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Kubelik in der Residenz gegeben hat. Aber Clifford Curzon ist schon wieder ein Thema für sich.
Fono Forum

Rezension Fono Forum 4/01 | Gregor Willmes | April 1, 2001 Mahler ohne Manierismen

Im August jährt sich der Todestag von Rafael Kubelik zum fünften Mal. Die kleine, aber feine Schallplattenfirma audite pflegt sein Andenken besonders, indem sie kontinuierlich Rundfunkmitschnitte des bedeutenden Dirigenten erstmals auf Tonträger präsentiert. Gregor Willmes hat die bei audite erschienenen Mahler-Aufnahmen mit denen der legendären Gesamteinspielung für die Deutsche Grammophon verglichen.
Der Durchbruch Gustav Mahlers fand nicht im Konzertsaal statt. Zwar gab es nach seinem Tod einige Dirigenten, die wie Willem Mengelberg, Otto Klemperer und Bruno Walter Mahler noch kennen gelernt hatten und sich nachdrücklich auch im Konzertsaal für seine Sinfonien einsetzten. Doch verdankt Mahler mit Sicherheit seine Popularität zum großen Teil der Stereo-Schallplatte. Seine Sinfonien schienen wie geschaffen dazu, die Möglichkeiten der Studio-Technik darzustellen. So klingen die riesigen Sinfonien auf Tonträger oftmals sogar transparenter, als sie es im Konzertsaal je vermögen.
Leonard Bernstein war der erste, der Mitte der 60er Jahre mit dem New York Philharmonic für CBS (heute Sony) eine Gesamtaufnahme der Mahlerschen Sinfonien schuf, allerdings ohne das Adagio der unvollendeten Zehnten. Ihm folgte Rafael Kubelik, der mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zwischen 1967 und 1971 im Herkules-Saal der Münchener Residenz alle Neune und den Adagio-Satz der Zehnten aufzeichnen ließ. Nur kurze Zeit später erschienen noch Gesamtaufnahmen von Bernard Haitink (Philips) und Georg Solti (Decca).
Ingo Harden zog im Dezember 1971 im Fono Form folgendes Fazit bezüglich der Kubelik-Aufnahmen: "Alles in allem: Der zweite vollständige Mahler-Zyklus hat in der Reihe der Mahler-Interpretationen der Gegenwart sein durchaus eigenes Profil, da sich von Bernsteins Aufnahmen durch ein Weniger an Leidenschaft und Pathos, ein Mehr an orchestraler Detailarbeit, einen helleren Grundton und eine emotional mehr den Mittelkurs haltende Darstellung unterscheidet." Harden stellte das Bild von Kubeliks "böhmischen Musikantentum" infrage, ohne es ganz abzustreiten, lobte darüber hinaus besonders die "sehr subtil und genau alle Klangfarben der Partituren aufschlüsselnden Aufführungen". In beidem ist Harden wohl Recht zu geben, wobei man nach meinem Dafürhalten allerdings Kubeliks tschechischen Wurzeln auch nicht unterschätzen soll, obwohl er sich (worauf Francis Drésel in seinem Aufsatz "Rafael Kubelik - Musiker und Poet" überzeugend hingewiesen hat) wie Mahler nach und nach "germanisiert" hat.
Rafael Kubelik wurde am 29. Juni 1914 in Bychorie bei Prag als Sohn des berühmten Geigen-Virtuosen Jan Kubelik geboren. Er studierte am Konservatorium in Prag Geige, Klavier, Dirigieren und Komposition. Er zählte also zu jener Kategorie von Mahler-Dirigenten, die wie Furtwängler und Klemperer oder wie später Bernstein und Boulez auch als Komponisten hervorgetreten sind. Das lässt vielleicht einerseits besser verstehen, warum Kubelik die musikalischen Zusammen hänge in Mahlers komplexen Sinfonien so einleuchtend darstellen konnte. Andererseits sagt das Komponisten-Dasein allein wieder auch nicht so viel über den Interpretationsstil aus, wenn man etwa an die Unterschiede zwischen Bernsteins expressivem und Boulez' analytischem Zugriff auf Mahler denkt.
Rafael Kubelik lernte Mahlers Sinfonien bereits in seiner Jugend in Prag kennen, zumeist dirigiert von Vaclav Talich,
aber auch von Gastdirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Für Kleibers Aufführung von Mahlers siebter Sinfonie leitete der 24-jährige Kubelik 1938 sogar die ersten Proben mit der Tschechischen Philharmonie.
Schnell machte Kubelik Karriere: 1939 wurde er Musikdirektor der Oper in Brünn, 1942 Leiter der Tschechischen Philharmonie. Später übernahm er Chefpositionen beim Chicago Symphony Orchestra und an den Opernhäusern Covent Garden London und Metropolitan New York. Seine zweite Heimat - nach Prag - wurde allerdings München, wo er von 1961 bis 1971 als Chefdirigent und noch bis 1985 als regelmäßiger Gast das Orchester des Bayerischen Rundfunks zu außergewöhnlichen Erfolgen führte.
Laut Erich Mauermann, dem damaligen Orchesterdirektor, war Kubelik der erste Dirigent der in München einen kompletten Mahler-Zyklus durchführte. Da er Mahlers Werke immer wieder auf den Spielplan setzte, sind einige Konzertmitschnitte erhalten, die jetzt nach und nach bei audite auf CD erscheinen. Friedrich Mauermann, Bruder von Erich Mauermann und mittlerweile in den Ruhestand getretener Ex-Chef von audite Schallplatten, hat die Reihe initiiert und dabei auf das Archiv des Bayerischen Rundfunks zurückgegriffen. Bei den Sinfonien eins, zwei und fünf hatte er sogar jeweils die Auswahl zwischen zwei verschiedenen Mitschnitten. "Wenn mehrere Aufnahmen derselben Sinfonie vorhanden waren", so Mauermann, "habe ich immer die jüngere genommen. Einerseits wegen des besseren Klangbildes, andererseits wegen der musikalischen Qualität. Die Gesamtzeiten der jüngeren Aufnahmen sind generell länger als die der älteren. Die Musik atmet mehr."
Die bisher veröffentlichten Mitschnitte der Sinfonien eins, zwei, fünf, sieben und neun stammen aus den Jahren 1975 und 1982 und wurden bis auf die neunte alle im Münchner Herkules Saal aufgenommen. Folgen sollen noch Mitschnitte der Sinfonien drei (1967) und sechs (1968), ebenfalls aus dem Herkules-Saal.
Somit stammen die bis jetzt vorliegenden Aufnahmen aus einer Zeit, die nach den Grammophon-Aufnahmen liegt. Und sucht man nach grundsätzlichen interpretatorischen Unterschieden, so stößt man zuerst auf die von Mauermann erwähnten langsameren Tempi der späteren Fassungen. Die "beiläufige" Schnelligkeit, die man den DG-Einspielungen bisweilen vorgeworfen hat, sind abgelegt. Vor allem in den Adagio- und Andante-Sätzen wählt Kubelik in späteren Jahren langsamere Tempi, beispielsweise im dritten Satz der ersten Sinfonie, aufgenommen am 2. November 1979. "Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen" lautet die Satzbezeichnung, die Kubelik genau beachtet. Wunderbar baut er die Spannung auf, spielt das Crescendo aus, das allein durch das ständige Hinzutreten neuer Instrumente erreicht wird. Das Oboensolo ist überaus deutlich phrasiert, bildet im betonten Staccato einen Kontrapunkt zum Legato der Streicher. Das Parodistische des Satzes ist wesentlich besser getroffen als in der DG-Einspielung. Auch das "Ziemlich langsam" (Ziffer 5) wirkt in sich schlüssiger, man meint auf einmal einen Spielmannszug oder eine Klezmer-Kapelle zu hören.
Herrlich sind auch die ersten beiden Sätze des audite-Mitschnitts gelungen: "Wie ein Naturlaut" - kaum ein Dirigent
dürfte Mahlers Vorstellungen beim Beginn des ersten Satzes wohl so gut getroffen haben wie Kubelik in diesem Konzert. Dass die Stelle hier wesentlich überzeugender wirkt als in der DG-Einspielung, liegt auch in der Aufnahmetechnik begründet. Bei der Grammophon klingen die Stimmen isolierter, in der späteren Rundfunk-Aufnahme verschmelzen sie stärker: Das mindert etwas den analytischen Ansatz, verstärkt jedoch die Unmittelbarkeit der Naturstimmung. Hinzu kommt, dass das Orchester, besonders die Bläser, in der späteren Aufnahme noch souveräner wirken als in der ersten. Dass es sich um einen Konzertmitschnitt handelt, geht nirgendwo auf Kosten der künstlerischen Qualität. Das spricht für eine intensive Probenarbeit.
Die wesentlich bessere Aufnahmetechnik ist übrigens ein Charakteristikum, das fast alle audite-Produktionen auszeichnet. Die Konzertmitschnitte besitzen mehr räumliche Tiefe. Während die DG-Aufnahmen sehr auf Transparenz bedacht sind und immer wieder einzelne Instrumente oder Gruppen nach vorn ziehen, meint man bei den Rundfunkmitschnitten, wirklich ein Orchester im Saal der Residenz zu erleben. Und die Live-Aufnahme der neunten Sinfonie aus Tokios Bunka Kaikan Concert Hall klingt im Vergleich deutlich flacher als die Münchner Aufnahmen.
Was Kubeliks Mahler-Aufnahmen auch noch denen bei audite - gelegentlich fehlt, das ist die mitreißende Kraft, mit der sich etwa Bernstein in die schnellen Sätze warf. Das Finale der ersten Sinfonie ("Stürmisch bewegt") beispielsweise oder der zweite Satz der ansonsten interpretatorisch überzeugenden fünften ("Stürmisch bewegt, mit größer Vehemenz") weisen in dieser Hinsicht Defizite auf.
Den stärksten Eindruck der audite-Mitschnitte hinterlassen nicht zufällig jene Sinfonien, die solche Satzcharaktere
weitesgehend aussparen: die zweite und die siebte Sinfonie. So war der 8. Oktober 1982 ein wirklicher Glückstag für die Geschichte der Mahler-Interpretation. Denn Kubelik dirigierte die zweite an diesem Tag wie aus einem Guss: Alles fließt, nichts wirkt forciert im Allegro maestoso. Ein ungemein feinsinniges, schwereloses Musizieren zeichnet das Andante aus. Herrlich setzt Kubelik das Scherzo um. Das böhmisch-mährische Musikantentum - dem Ingo Harden einst so zweifelnd gegenüberstand - ist hier prächtig zu finden. Die Fischpredigt hält Kubelik leider nicht ganz so ironisch wie Bernstein. Dafür hat er mit Brigitte Fassbaender einen Alt, der das "Röschen rot" mit hinreißendem Timbre und klarer, sinnhaltiger Artikulation versieht. Im hervorragend gesteigerten Finale bilden Edith Mathis und Brigitte Fassbaender ein Traumpaar.
Genauso überragend ist die gerade auf CD erschienene siebte Sinfonie gestaltet. Sehr organisch meisterte Kubelik am 5. Februar 1976 die ständigen Tempowechsel im ersten Satz. Zauberhaft, dunkel getönt kommen die Nachtmusiken auf CD daher. Das Scherzo nimmt von Anfang an gefangen und lässt den Hörer nicht mehr los. Selbst das apotheotische Finale, mit dem viele Dirigenten Probleme haben, klingt bei Kubelik sinnvoll. Das Pathos wirkt nicht übertrieben, aber die Zuversicht bleibt.
Fazit: Mit diesen Mahler-Veröffentlichungen ist audite ein großer Wurf gelungen. Und wer bei Kubelik auf den Geschmack gekommen ist, der kann bei demselben Label auch noch hervorragende Mitschnitte von Beethoven- und vor allem Mozart-Konzerten bekommen, die Clifford Curzon mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Kubelik in der Residenz gegeben hat. Aber Clifford Curzon ist schon wieder ein Thema für sich.
Fono Forum

Rezension Fono Forum 4/01 | Gregor Willmes | April 1, 2001 Mahler ohne Manierismen

Im August jährt sich der Todestag von Rafael Kubelik zum fünften Mal. Die kleine, aber feine Schallplattenfirma audite pflegt sein Andenken besonders, indem sie kontinuierlich Rundfunkmitschnitte des bedeutenden Dirigenten erstmals auf Tonträger präsentiert. Gregor Willmes hat die bei audite erschienenen Mahler-Aufnahmen mit denen der legendären Gesamteinspielung für die Deutsche Grammophon verglichen.

Der Durchbruch Gustav Mahlers fand nicht im Konzertsaal statt. Zwar gab es nach seinem Tod einige Dirigenten, die wie Willem Mengelberg, Otto Klemperer und Bruno Walter Mahler noch kennen gelernt hatten und sich nachdrücklich auch im Konzertsaal für seine Sinfonien einsetzten. Doch verdankt Mahler mit Sicherheit seine Popularität zum großen Teil der Stereo-Schallplatte. Seine Sinfonien schienen wie geschaffen dazu, die Möglichkeiten der Studio-Technik darzustellen. So klingen die riesigen Sinfonien auf Tonträger oftmals sogar transparenter, als sie es im Konzertsaal je vermögen.

Leonard Bernstein war der erste, der Mitte der 60er Jahre mit dem New York Philharmonic für CBS (heute Sony) eine Gesamtaufnahme der Mahlerschen Sinfonien schuf, allerdings ohne das Adagio der unvollendeten Zehnten. Ihm folgte Rafael Kubelik, der mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zwischen 1967 und 1971 im Herkules-Saal der Münchener Residenz alle Neune und den Adagio-Satz der Zehnten aufzeichnen ließ. Nur kurze Zeit später erschienen noch Gesamtaufnahmen von Bernard Haitink (Philips) und Georg Solti (Decca).

Ingo Harden zog im Dezember 1971 im Fono Form folgendes Fazit bezüglich der Kubelik-Aufnahmen: "Alles in allem: Der zweite vollständige Mahler-Zyklus hat in der Reihe der Mahler-Interpretationen der Gegenwart sein durchaus eigenes Profil, da sich von Bernsteins Aufnahmen durch ein Weniger an Leidenschaft und Pathos, ein Mehr an orchestraler Detailarbeit, einen helleren Grundton und eine emotional mehr den Mittelkurs haltende Darstellung unterscheidet." Harden stellte das Bild von Kubeliks "böhmischen Musikantentum" infrage, ohne es ganz abzustreiten, lobte darüber hinaus besonders die "sehr subtil und genau alle Klangfarben der Partituren aufschlüsselnden Aufführungen". In beidem ist Harden wohl Recht zu geben, wobei man nach meinem Dafürhalten allerdings Kubeliks tschechischen Wurzeln auch nicht unterschätzen soll, obwohl er sich (worauf Francis Drésel in seinem Aufsatz "Rafael Kubelik - Musiker und Poet" überzeugend hingewiesen hat) wie Mahler nach und nach "germanisiert" hat.

Rafael Kubelik wurde am 29. Juni 1914 in Bychorie bei Prag als Sohn des berühmten Geigen-Virtuosen Jan Kubelik geboren. Er studierte am Konservatorium in Prag Geige, Klavier, Dirigieren und Komposition. Er zählte also zu jener Kategorie von Mahler-Dirigenten, die wie Furtwängler und Klemperer oder wie später Bernstein und Boulez auch als Komponisten hervorgetreten sind. Das lässt vielleicht einerseits besser verstehen, warum Kubelik die musikalischen Zusammen hänge in Mahlers komplexen Sinfonien so einleuchtend darstellen konnte. Andererseits sagt das Komponisten-Dasein allein wieder auch nicht so viel über den Interpretationsstil aus, wenn man etwa an die Unterschiede zwischen Bernsteins expressivem und Boulez' analytischem Zugriff auf Mahler denkt.

Rafael Kubelik lernte Mahlers Sinfonien bereits in seiner Jugend in Prag kennen, zumeist dirigiert von Vaclav Talich,
aber auch von Gastdirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Für Kleibers Aufführung von Mahlers siebter Sinfonie leitete der 24-jährige Kubelik 1938 sogar die ersten Proben mit der Tschechischen Philharmonie.

Schnell machte Kubelik Karriere: 1939 wurde er Musikdirektor der Oper in Brünn, 1942 Leiter der Tschechischen Philharmonie. Später übernahm er Chefpositionen beim Chicago Symphony Orchestra und an den Opernhäusern Covent Garden London und Metropolitan New York. Seine zweite Heimat - nach Prag - wurde allerdings München, wo er von 1961 bis 1971 als Chefdirigent und noch bis 1985 als regelmäßiger Gast das Orchester des Bayerischen Rundfunks zu außergewöhnlichen Erfolgen führte.

Laut Erich Mauermann, dem damaligen Orchesterdirektor, war Kubelik der erste Dirigent der in München einen kompletten Mahler-Zyklus durchführte. Da er Mahlers Werke immer wieder auf den Spielplan setzte, sind einige Konzertmitschnitte erhalten, die jetzt nach und nach bei audite auf CD erscheinen. Friedrich Mauermann, Bruder von Erich Mauermann und mittlerweile in den Ruhestand getretener Ex-Chef von audite Schallplatten, hat die Reihe initiiert und dabei auf das Archiv des Bayerischen Rundfunks zurückgegriffen. Bei den Sinfonien eins, zwei und fünf hatte er sogar jeweils die Auswahl zwischen zwei verschiedenen Mitschnitten. "Wenn mehrere Aufnahmen derselben Sinfonie vorhanden waren", so Mauermann, "habe ich immer die jüngere genommen. Einerseits wegen des besseren Klangbildes, andererseits wegen der musikalischen Qualität. Die Gesamtzeiten der jüngeren Aufnahmen sind generell länger als die der älteren. Die Musik atmet mehr."

Die bisher veröffentlichten Mitschnitte der Sinfonien eins, zwei, fünf, sieben und neun stammen aus den Jahren 1975 und 1982 und wurden bis auf die neunte alle im Münchner Herkules Saal aufgenommen. Folgen sollen noch Mitschnitte der Sinfonien drei (1967) und sechs (1968), ebenfalls aus dem Herkules-Saal.

Somit stammen die bis jetzt vorliegenden Aufnahmen aus einer Zeit, die nach den Grammophon-Aufnahmen liegt. Und sucht man nach grundsätzlichen interpretatorischen Unterschieden, so stößt man zuerst auf die von Mauermann erwähnten langsameren Tempi der späteren Fassungen. Die "beiläufige" Schnelligkeit, die man den DG-Einspielungen bisweilen vorgeworfen hat, sind abgelegt. Vor allem in den Adagio- und Andante-Sätzen wählt Kubelik in späteren Jahren langsamere Tempi, beispielsweise im dritten Satz der ersten Sinfonie, aufgenommen am 2. November 1979. "Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen" lautet die Satzbezeichnung, die Kubelik genau beachtet. Wunderbar baut er die Spannung auf, spielt das Crescendo aus, das allein durch das ständige Hinzutreten neuer Instrumente erreicht wird. Das Oboensolo ist überaus deutlich phrasiert, bildet im betonten Staccato einen Kontrapunkt zum Legato der Streicher. Das Parodistische des Satzes ist wesentlich besser getroffen als in der DG-Einspielung. Auch das "Ziemlich langsam" (Ziffer 5) wirkt in sich schlüssiger, man meint auf einmal einen Spielmannszug oder eine Klezmer-Kapelle zu hören.

Herrlich sind auch die ersten beiden Sätze des audite-Mitschnitts gelungen: "Wie ein Naturlaut" - kaum ein Dirigent
dürfte Mahlers Vorstellungen beim Beginn des ersten Satzes wohl so gut getroffen haben wie Kubelik in diesem Konzert. Dass die Stelle hier wesentlich überzeugender wirkt als in der DG-Einspielung, liegt auch in der Aufnahmetechnik begründet. Bei der Grammophon klingen die Stimmen isolierter, in der späteren Rundfunk-Aufnahme verschmelzen sie stärker: Das mindert etwas den analytischen Ansatz, verstärkt jedoch die Unmittelbarkeit der Naturstimmung. Hinzu kommt, dass das Orchester, besonders die Bläser, in der späteren Aufnahme noch souveräner wirken als in der ersten. Dass es sich um einen Konzertmitschnitt handelt, geht nirgendwo auf Kosten der künstlerischen Qualität. Das spricht für eine intensive Probenarbeit.

Die wesentlich bessere Aufnahmetechnik ist übrigens ein Charakteristikum, das fast alle audite-Produktionen auszeichnet. Die Konzertmitschnitte besitzen mehr räumliche Tiefe. Während die DG-Aufnahmen sehr auf Transparenz bedacht sind und immer wieder einzelne Instrumente oder Gruppen nach vorn ziehen, meint man bei den Rundfunkmitschnitten, wirklich ein Orchester im Saal der Residenz zu erleben. Und die Live-Aufnahme der neunten Sinfonie aus Tokios Bunka Kaikan Concert Hall klingt im Vergleich deutlich flacher als die Münchner Aufnahmen.

Was Kubeliks Mahler-Aufnahmen auch noch denen bei audite - gelegentlich fehlt, das ist die mitreißende Kraft, mit der sich etwa Bernstein in die schnellen Sätze warf. Das Finale der ersten Sinfonie ("Stürmisch bewegt") beispielsweise oder der zweite Satz der ansonsten interpretatorisch überzeugenden fünften ("Stürmisch bewegt, mit größer Vehemenz") weisen in dieser Hinsicht Defizite auf.

Den stärksten Eindruck der audite-Mitschnitte hinterlassen nicht zufällig jene Sinfonien, die solche Satzcharaktere
weitesgehend aussparen: die zweite und die siebte Sinfonie. So war der 8. Oktober 1982 ein wirklicher Glückstag für die Geschichte der Mahler-Interpretation. Denn Kubelik dirigierte die zweite an diesem Tag wie aus einem Guss: Alles fließt, nichts wirkt forciert im Allegro maestoso. Ein ungemein feinsinniges, schwereloses Musizieren zeichnet das Andante aus. Herrlich setzt Kubelik das Scherzo um. Das böhmisch-mährische Musikantentum - dem Ingo Harden einst so zweifelnd gegenüberstand - ist hier prächtig zu finden. Die Fischpredigt hält Kubelik leider nicht ganz so ironisch wie Bernstein. Dafür hat er mit Brigitte Fassbaender einen Alt, der das "Röschen rot" mit hinreißendem Timbre und klarer, sinnhaltiger Artikulation versieht. Im hervorragend gesteigerten Finale bilden Edith Mathis und Brigitte Fassbaender ein Traumpaar.

Genauso überragend ist die gerade auf CD erschienene siebte Sinfonie gestaltet. Sehr organisch meisterte Kubelik am 5. Februar 1976 die ständigen Tempowechsel im ersten Satz. Zauberhaft, dunkel getönt kommen die Nachtmusiken auf CD daher. Das Scherzo nimmt von Anfang an gefangen und lässt den Hörer nicht mehr los. Selbst das apotheotische Finale, mit dem viele Dirigenten Probleme haben, klingt bei Kubelik sinnvoll. Das Pathos wirkt nicht übertrieben, aber die Zuversicht bleibt.

Fazit: Mit diesen Mahler-Veröffentlichungen ist audite ein großer Wurf gelungen. Und wer bei Kubelik auf den Geschmack gekommen ist, der kann bei demselben Label auch noch hervorragende Mitschnitte von Beethoven- und vor allem Mozart-Konzerten bekommen, die Clifford Curzon mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Kubelik in der Residenz gegeben hat. Aber Clifford Curzon ist schon wieder ein Thema für sich.
Fono Forum

Rezension Fono Forum 4/01 | Gregor Willmes | April 1, 2001 Mahler ohne Manierisme

Im August jährt sich der Todestag von Rafael Kubelik zum fünften Mal. Die kleine, aber feine Schallplattenfirma audite pflegt sein Andenken besonders, indem sie kontinuierlich Rundfunkmitschnitte des bedeutenden Dirigenten erstmals auf Tonträger präsentiert. Gregor Willmes hat die bei audite erschienenen Mahler-Aufnahmen mit denen der legendären Gesamteinspielung für die Deutsche Grammophon verglichen.

Der Durchbruch Gustav Mahlers fand nicht im Konzertsaal statt. Zwar gab es nach seinem Tod einige Dirigenten, die wie Willem Mengelberg, Otto Klemperer und Bruno Walter Mahler noch kennen gelernt hatten und sich nachdrücklich auch im Konzertsaal für seine Sinfonien einsetzten. Doch verdankt Mahler mit Sicherheit seine Popularität zum großen Teil der Stereo-Schallplatte. Seine Sinfonien schienen wie geschaffen dazu, die Möglichkeiten der Studio-Technik darzustellen. So klingen die riesigen Sinfonien auf Tonträger oftmals sogar transparenter, als sie es im Konzertsaal je vermögen.

Leonard Bernstein war der erste, der Mitte der 60er Jahre mit dem New York Philharmonic für CBS (heute Sony) eine Gesamtaufnahme der Mahlerschen Sinfonien schuf, allerdings ohne das Adagio der unvollendeten Zehnten. Ihm folgte Rafael Kubelik, der mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zwischen 1967 und 1971 im Herkules-Saal der Münchener Residenz alle Neune und den Adagio-Satz der Zehnten aufzeichnen ließ. Nur kurze Zeit später erschienen noch Gesamtaufnahmen von Bernard Haitink (Philips) und Georg Solti (Decca).

Ingo Harden zog im Dezember 1971 im Fono Form folgendes Fazit bezüglich der Kubelik-Aufnahmen: "Alles in allem: Der zweite vollständige Mahler-Zyklus hat in der Reihe der Mahler-Interpretationen der Gegenwart sein durchaus eigenes Profil, da sich von Bernsteins Aufnahmen durch ein Weniger an Leidenschaft und Pathos, ein Mehr an orchestraler Detailarbeit, einen helleren Grundton und eine emotional mehr den Mittelkurs haltende Darstellung unterscheidet." Harden stellte das Bild von Kubeliks "böhmischen Musikantentum" infrage, ohne es ganz abzustreiten, lobte darüber hinaus besonders die "sehr subtil und genau alle Klangfarben der Partituren aufschlüsselnden Aufführungen". In beidem ist Harden wohl Recht zu geben, wobei man nach meinem Dafürhalten allerdings Kubeliks tschechischen Wurzeln auch nicht unterschätzen soll, obwohl er sich (worauf Francis Drésel in seinem Aufsatz "Rafael Kubelik - Musiker und Poet" überzeugend hingewiesen hat) wie Mahler nach und nach "germanisiert" hat.

Rafael Kubelik wurde am 29. Juni 1914 in Bychorie bei Prag als Sohn des berühmten Geigen-Virtuosen Jan Kubelik geboren. Er studierte am Konservatorium in Prag Geige, Klavier, Dirigieren und Komposition. Er zählte also zu jener Kategorie von Mahler-Dirigenten, die wie Furtwängler und Klemperer oder wie später Bernstein und Boulez auch als Komponisten hervorgetreten sind. Das lässt vielleicht einerseits besser verstehen, warum Kubelik die musikalischen Zusammen hänge in Mahlers komplexen Sinfonien so einleuchtend darstellen konnte. Andererseits sagt das Komponisten-Dasein allein wieder auch nicht so viel über den Interpretationsstil aus, wenn man etwa an die Unterschiede zwischen Bernsteins expressivem und Boulez' analytischem Zugriff auf Mahler denkt.

Rafael Kubelik lernte Mahlers Sinfonien bereits in seiner Jugend in Prag kennen, zumeist dirigiert von Vaclav Talich,
aber auch von Gastdirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Für Kleibers Aufführung von Mahlers siebter Sinfonie leitete der 24-jährige Kubelik 1938 sogar die ersten Proben mit der Tschechischen Philharmonie.

Schnell machte Kubelik Karriere: 1939 wurde er Musikdirektor der Oper in Brünn, 1942 Leiter der Tschechischen Philharmonie. Später übernahm er Chefpositionen beim Chicago Symphony Orchestra und an den Opernhäusern Covent Garden London und Metropolitan New York. Seine zweite Heimat - nach Prag - wurde allerdings München, wo er von 1961 bis 1971 als Chefdirigent und noch bis 1985 als regelmäßiger Gast das Orchester des Bayerischen Rundfunks zu außergewöhnlichen Erfolgen führte.

Laut Erich Mauermann, dem damaligen Orchesterdirektor, war Kubelik der erste Dirigent der in München einen kompletten Mahler-Zyklus durchführte. Da er Mahlers Werke immer wieder auf den Spielplan setzte, sind einige Konzertmitschnitte erhalten, die jetzt nach und nach bei audite auf CD erscheinen. Friedrich Mauermann, Bruder von Erich Mauermann und mittlerweile in den Ruhestand getretener Ex-Chef von audite Schallplatten, hat die Reihe initiiert und dabei auf das Archiv des Bayerischen Rundfunks zurückgegriffen. Bei den Sinfonien eins, zwei und fünf hatte er sogar jeweils die Auswahl zwischen zwei verschiedenen Mitschnitten. "Wenn mehrere Aufnahmen derselben Sinfonie vorhanden waren", so Mauermann, "habe ich immer die jüngere genommen. Einerseits wegen des besseren Klangbildes, andererseits wegen der musikalischen Qualität. Die Gesamtzeiten der jüngeren Aufnahmen sind generell länger als die der älteren. Die Musik atmet mehr."

Die bisher veröffentlichten Mitschnitte der Sinfonien eins, zwei, fünf, sieben und neun stammen aus den Jahren 1975 und 1982 und wurden bis auf die neunte alle im Münchner Herkules Saal aufgenommen. Folgen sollen noch Mitschnitte der Sinfonien drei (1967) und sechs (1968), ebenfalls aus dem Herkules-Saal.

Somit stammen die bis jetzt vorliegenden Aufnahmen aus einer Zeit, die nach den Grammophon-Aufnahmen liegt. Und sucht man nach grundsätzlichen interpretatorischen Unterschieden, so stößt man zuerst auf die von Mauermann erwähnten langsameren Tempi der späteren Fassungen. Die "beiläufige" Schnelligkeit, die man den DG-Einspielungen bisweilen vorgeworfen hat, sind abgelegt. Vor allem in den Adagio- und Andante-Sätzen wählt Kubelik in späteren Jahren langsamere Tempi, beispielsweise im dritten Satz der ersten Sinfonie, aufgenommen am 2. November 1979. "Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen" lautet die Satzbezeichnung, die Kubelik genau beachtet. Wunderbar baut er die Spannung auf, spielt das Crescendo aus, das allein durch das ständige Hinzutreten neuer Instrumente erreicht wird. Das Oboensolo ist überaus deutlich phrasiert, bildet im betonten Staccato einen Kontrapunkt zum Legato der Streicher. Das Parodistische des Satzes ist wesentlich besser getroffen als in der DG-Einspielung. Auch das "Ziemlich langsam" (Ziffer 5) wirkt in sich schlüssiger, man meint auf einmal einen Spielmannszug oder eine Klezmer-Kapelle zu hören.

Herrlich sind auch die ersten beiden Sätze des audite-Mitschnitts gelungen: "Wie ein Naturlaut" - kaum ein Dirigent
dürfte Mahlers Vorstellungen beim Beginn des ersten Satzes wohl so gut getroffen haben wie Kubelik in diesem Konzert. Dass die Stelle hier wesentlich überzeugender wirkt als in der DG-Einspielung, liegt auch in der Aufnahmetechnik begründet. Bei der Grammophon klingen die Stimmen isolierter, in der späteren Rundfunk-Aufnahme verschmelzen sie stärker: Das mindert etwas den analytischen Ansatz, verstärkt jedoch die Unmittelbarkeit der Naturstimmung. Hinzu kommt, dass das Orchester, besonders die Bläser, in der späteren Aufnahme noch souveräner wirken als in der ersten. Dass es sich um einen Konzertmitschnitt handelt, geht nirgendwo auf Kosten der künstlerischen Qualität. Das spricht für eine intensive Probenarbeit.

Die wesentlich bessere Aufnahmetechnik ist übrigens ein Charakteristikum, das fast alle audite-Produktionen auszeichnet. Die Konzertmitschnitte besitzen mehr räumliche Tiefe. Während die DG-Aufnahmen sehr auf Transparenz bedacht sind und immer wieder einzelne Instrumente oder Gruppen nach vorn ziehen, meint man bei den Rundfunkmitschnitten, wirklich ein Orchester im Saal der Residenz zu erleben. Und die Live-Aufnahme der neunten Sinfonie aus Tokios Bunka Kaikan Concert Hall klingt im Vergleich deutlich flacher als die Münchner Aufnahmen.

Was Kubeliks Mahler-Aufnahmen auch noch denen bei audite - gelegentlich fehlt, das ist die mitreißende Kraft, mit der sich etwa Bernstein in die schnellen Sätze warf. Das Finale der ersten Sinfonie ("Stürmisch bewegt") beispielsweise oder der zweite Satz der ansonsten interpretatorisch überzeugenden fünften ("Stürmisch bewegt, mit größer Vehemenz") weisen in dieser Hinsicht Defizite auf.

Den stärksten Eindruck der audite-Mitschnitte hinterlassen nicht zufällig jene Sinfonien, die solche Satzcharaktere
weitesgehend aussparen: die zweite und die siebte Sinfonie. So war der 8. Oktober 1982 ein wirklicher Glückstag für die Geschichte der Mahler-Interpretation. Denn Kubelik dirigierte die zweite an diesem Tag wie aus einem Guss: Alles fließt, nichts wirkt forciert im Allegro maestoso. Ein ungemein feinsinniges, schwereloses Musizieren zeichnet das Andante aus. Herrlich setzt Kubelik das Scherzo um. Das böhmisch-mährische Musikantentum - dem Ingo Harden einst so zweifelnd gegenüberstand - ist hier prächtig zu finden. Die Fischpredigt hält Kubelik leider nicht ganz so ironisch wie Bernstein. Dafür hat er mit Brigitte Fassbaender einen Alt, der das "Röschen rot" mit hinreißendem Timbre und klarer, sinnhaltiger Artikulation versieht. Im hervorragend gesteigerten Finale bilden Edith Mathis und Brigitte Fassbaender ein Traumpaar.

Genauso überragend ist die gerade auf CD erschienene siebte Sinfonie gestaltet. Sehr organisch meisterte Kubelik am 5. Februar 1976 die ständigen Tempowechsel im ersten Satz. Zauberhaft, dunkel getönt kommen die Nachtmusiken auf CD daher. Das Scherzo nimmt von Anfang an gefangen und lässt den Hörer nicht mehr los. Selbst das apotheotische Finale, mit dem viele Dirigenten Probleme haben, klingt bei Kubelik sinnvoll. Das Pathos wirkt nicht übertrieben, aber die Zuversicht bleibt.

Fazit: Mit diesen Mahler-Veröffentlichungen ist audite ein großer Wurf gelungen. Und wer bei Kubelik auf den Geschmack gekommen ist, der kann bei demselben Label auch noch hervorragende Mitschnitte von Beethoven- und vor allem Mozart-Konzerten bekommen, die Clifford Curzon mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Kubelik in der Residenz gegeben hat. Aber Clifford Curzon ist schon wieder ein Thema für sich.
Fono Forum

Rezension Fono Forum 4/01 | Gregor Willmes | April 1, 2001 Mahler ohne Manierismen

Im August jährt sich der Todestag von Rafael Kubelik zum fünften Mal. Die kleine, aber feine Schallplattenfirma audite pflegt sein Andenken besonders, indem sie kontinuierlich Rundfunkmitschnitte des bedeutenden Dirigenten erstmals auf Tonträger präsentiert. Gregor Willmes hat die bei audite erschienenen Mahler-Aufnahmen mit denen der legendären Gesamteinspielung für die Deutsche Grammophon verglichen.

Der Durchbruch Gustav Mahlers fand nicht im Konzertsaal statt. Zwar gab es nach seinem Tod einige Dirigenten, die wie Willem Mengelberg, Otto Klemperer und Bruno Walter Mahler noch kennen gelernt hatten und sich nachdrücklich auch im Konzertsaal für seine Sinfonien einsetzten. Doch verdankt Mahler mit Sicherheit seine Popularität zum großen Teil der Stereo-Schallplatte. Seine Sinfonien schienen wie geschaffen dazu, die Möglichkeiten der Studio-Technik darzustellen. So klingen die riesigen Sinfonien auf Tonträger oftmals sogar transparenter, als sie es im Konzertsaal je vermögen.

Leonard Bernstein war der erste, der Mitte der 60er Jahre mit dem New York Philharmonic für CBS (heute Sony) eine Gesamtaufnahme der Mahlerschen Sinfonien schuf, allerdings ohne das Adagio der unvollendeten Zehnten. Ihm folgte Rafael Kubelik, der mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zwischen 1967 und 1971 im Herkules-Saal der Münchener Residenz alle Neune und den Adagio-Satz der Zehnten aufzeichnen ließ. Nur kurze Zeit später erschienen noch Gesamtaufnahmen von Bernard Haitink (Philips) und Georg Solti (Decca).

Ingo Harden zog im Dezember 1971 im Fono Form folgendes Fazit bezüglich der Kubelik-Aufnahmen: "Alles in allem: Der zweite vollständige Mahler-Zyklus hat in der Reihe der Mahler-Interpretationen der Gegenwart sein durchaus eigenes Profil, da sich von Bernsteins Aufnahmen durch ein Weniger an Leidenschaft und Pathos, ein Mehr an orchestraler Detailarbeit, einen helleren Grundton und eine emotional mehr den Mittelkurs haltende Darstellung unterscheidet." Harden stellte das Bild von Kubeliks "böhmischen Musikantentum" infrage, ohne es ganz abzustreiten, lobte darüber hinaus besonders die "sehr subtil und genau alle Klangfarben der Partituren aufschlüsselnden Aufführungen". In beidem ist Harden wohl Recht zu geben, wobei man nach meinem Dafürhalten allerdings Kubeliks tschechischen Wurzeln auch nicht unterschätzen soll, obwohl er sich (worauf Francis Drésel in seinem Aufsatz "Rafael Kubelik - Musiker und Poet" überzeugend hingewiesen hat) wie Mahler nach und nach "germanisiert" hat.

Rafael Kubelik wurde am 29. Juni 1914 in Bychorie bei Prag als Sohn des berühmten Geigen-Virtuosen Jan Kubelik geboren. Er studierte am Konservatorium in Prag Geige, Klavier, Dirigieren und Komposition. Er zählte also zu jener Kategorie von Mahler-Dirigenten, die wie Furtwängler und Klemperer oder wie später Bernstein und Boulez auch als Komponisten hervorgetreten sind. Das lässt vielleicht einerseits besser verstehen, warum Kubelik die musikalischen Zusammen hänge in Mahlers komplexen Sinfonien so einleuchtend darstellen konnte. Andererseits sagt das Komponisten-Dasein allein wieder auch nicht so viel über den Interpretationsstil aus, wenn man etwa an die Unterschiede zwischen Bernsteins expressivem und Boulez' analytischem Zugriff auf Mahler denkt.

Rafael Kubelik lernte Mahlers Sinfonien bereits in seiner Jugend in Prag kennen, zumeist dirigiert von Vaclav Talich,
aber auch von Gastdirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Für Kleibers Aufführung von Mahlers siebter Sinfonie leitete der 24-jährige Kubelik 1938 sogar die ersten Proben mit der Tschechischen Philharmonie.

Schnell machte Kubelik Karriere: 1939 wurde er Musikdirektor der Oper in Brünn, 1942 Leiter der Tschechischen Philharmonie. Später übernahm er Chefpositionen beim Chicago Symphony Orchestra und an den Opernhäusern Covent Garden London und Metropolitan New York. Seine zweite Heimat - nach Prag - wurde allerdings München, wo er von 1961 bis 1971 als Chefdirigent und noch bis 1985 als regelmäßiger Gast das Orchester des Bayerischen Rundfunks zu außergewöhnlichen Erfolgen führte.

Laut Erich Mauermann, dem damaligen Orchesterdirektor, war Kubelik der erste Dirigent der in München einen kompletten Mahler-Zyklus durchführte. Da er Mahlers Werke immer wieder auf den Spielplan setzte, sind einige Konzertmitschnitte erhalten, die jetzt nach und nach bei audite auf CD erscheinen. Friedrich Mauermann, Bruder von Erich Mauermann und mittlerweile in den Ruhestand getretener Ex-Chef von audite Schallplatten, hat die Reihe initiiert und dabei auf das Archiv des Bayerischen Rundfunks zurückgegriffen. Bei den Sinfonien eins, zwei und fünf hatte er sogar jeweils die Auswahl zwischen zwei verschiedenen Mitschnitten. "Wenn mehrere Aufnahmen derselben Sinfonie vorhanden waren", so Mauermann, "habe ich immer die jüngere genommen. Einerseits wegen des besseren Klangbildes, andererseits wegen der musikalischen Qualität. Die Gesamtzeiten der jüngeren Aufnahmen sind generell länger als die der älteren. Die Musik atmet mehr."

Die bisher veröffentlichten Mitschnitte der Sinfonien eins, zwei, fünf, sieben und neun stammen aus den Jahren 1975 und 1982 und wurden bis auf die neunte alle im Münchner Herkules Saal aufgenommen. Folgen sollen noch Mitschnitte der Sinfonien drei (1967) und sechs (1968), ebenfalls aus dem Herkules-Saal.

Somit stammen die bis jetzt vorliegenden Aufnahmen aus einer Zeit, die nach den Grammophon-Aufnahmen liegt. Und sucht man nach grundsätzlichen interpretatorischen Unterschieden, so stößt man zuerst auf die von Mauermann erwähnten langsameren Tempi der späteren Fassungen. Die "beiläufige" Schnelligkeit, die man den DG-Einspielungen bisweilen vorgeworfen hat, sind abgelegt. Vor allem in den Adagio- und Andante-Sätzen wählt Kubelik in späteren Jahren langsamere Tempi, beispielsweise im dritten Satz der ersten Sinfonie, aufgenommen am 2. November 1979. "Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen" lautet die Satzbezeichnung, die Kubelik genau beachtet. Wunderbar baut er die Spannung auf, spielt das Crescendo aus, das allein durch das ständige Hinzutreten neuer Instrumente erreicht wird. Das Oboensolo ist überaus deutlich phrasiert, bildet im betonten Staccato einen Kontrapunkt zum Legato der Streicher. Das Parodistische des Satzes ist wesentlich besser getroffen als in der DG-Einspielung. Auch das "Ziemlich langsam" (Ziffer 5) wirkt in sich schlüssiger, man meint auf einmal einen Spielmannszug oder eine Klezmer-Kapelle zu hören.

Herrlich sind auch die ersten beiden Sätze des audite-Mitschnitts gelungen: "Wie ein Naturlaut" - kaum ein Dirigent
dürfte Mahlers Vorstellungen beim Beginn des ersten Satzes wohl so gut getroffen haben wie Kubelik in diesem Konzert. Dass die Stelle hier wesentlich überzeugender wirkt als in der DG-Einspielung, liegt auch in der Aufnahmetechnik begründet. Bei der Grammophon klingen die Stimmen isolierter, in der späteren Rundfunk-Aufnahme verschmelzen sie stärker: Das mindert etwas den analytischen Ansatz, verstärkt jedoch die Unmittelbarkeit der Naturstimmung. Hinzu kommt, dass das Orchester, besonders die Bläser, in der späteren Aufnahme noch souveräner wirken als in der ersten. Dass es sich um einen Konzertmitschnitt handelt, geht nirgendwo auf Kosten der künstlerischen Qualität. Das spricht für eine intensive Probenarbeit.

Die wesentlich bessere Aufnahmetechnik ist übrigens ein Charakteristikum, das fast alle audite-Produktionen auszeichnet. Die Konzertmitschnitte besitzen mehr räumliche Tiefe. Während die DG-Aufnahmen sehr auf Transparenz bedacht sind und immer wieder einzelne Instrumente oder Gruppen nach vorn ziehen, meint man bei den Rundfunkmitschnitten, wirklich ein Orchester im Saal der Residenz zu erleben. Und die Live-Aufnahme der neunten Sinfonie aus Tokios Bunka Kaikan Concert Hall klingt im Vergleich deutlich flacher als die Münchner Aufnahmen.

Was Kubeliks Mahler-Aufnahmen auch noch denen bei audite - gelegentlich fehlt, das ist die mitreißende Kraft, mit der sich etwa Bernstein in die schnellen Sätze warf. Das Finale der ersten Sinfonie ("Stürmisch bewegt") beispielsweise oder der zweite Satz der ansonsten interpretatorisch überzeugenden fünften ("Stürmisch bewegt, mit größer Vehemenz") weisen in dieser Hinsicht Defizite auf.

Den stärksten Eindruck der audite-Mitschnitte hinterlassen nicht zufällig jene Sinfonien, die solche Satzcharaktere
weitesgehend aussparen: die zweite und die siebte Sinfonie. So war der 8. Oktober 1982 ein wirklicher Glückstag für die Geschichte der Mahler-Interpretation. Denn Kubelik dirigierte die zweite an diesem Tag wie aus einem Guss: Alles fließt, nichts wirkt forciert im Allegro maestoso. Ein ungemein feinsinniges, schwereloses Musizieren zeichnet das Andante aus. Herrlich setzt Kubelik das Scherzo um. Das böhmisch-mährische Musikantentum - dem Ingo Harden einst so zweifelnd gegenüberstand - ist hier prächtig zu finden. Die Fischpredigt hält Kubelik leider nicht ganz so ironisch wie Bernstein. Dafür hat er mit Brigitte Fassbaender einen Alt, der das "Röschen rot" mit hinreißendem Timbre und klarer, sinnhaltiger Artikulation versieht. Im hervorragend gesteigerten Finale bilden Edith Mathis und Brigitte Fassbaender ein Traumpaar.

Genauso überragend ist die gerade auf CD erschienene siebte Sinfonie gestaltet. Sehr organisch meisterte Kubelik am 5. Februar 1976 die ständigen Tempowechsel im ersten Satz. Zauberhaft, dunkel getönt kommen die Nachtmusiken auf CD daher. Das Scherzo nimmt von Anfang an gefangen und lässt den Hörer nicht mehr los. Selbst das apotheotische Finale, mit dem viele Dirigenten Probleme haben, klingt bei Kubelik sinnvoll. Das Pathos wirkt nicht übertrieben, aber die Zuversicht bleibt.

Fazit: Mit diesen Mahler-Veröffentlichungen ist audite ein großer Wurf gelungen. Und wer bei Kubelik auf den Geschmack gekommen ist, der kann bei demselben Label auch noch hervorragende Mitschnitte von Beethoven- und vor allem Mozart-Konzerten bekommen, die Clifford Curzon mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Kubelik in der Residenz gegeben hat. Aber Clifford Curzon ist schon wieder ein Thema für sich.
International Classical Music Awards

Rezension International Classical Music Awards 18.01.2023 | January 18, 2023 ICMA-WINNER "HISTORICAL RECORDINGS"

There are recordings that tell stories. And these stories resound anew in every new epoch. On the night of August 20-21, 1968, Soviet tanks rolled across the streets of Prague, ending the Prague Spring. Only a few days later, the Czech Rafael Kubelík, conducted a concert with the New Philharmonia Orchestra in Lucerne. Haydn’s Symphony No. 99 is sparkling with vitality and perfection, and Tchaikovsky’s Symphony No. 4 is marked by a deep, tragic sense of the inevitability of fate. John Ogdon superbly contributes Schönberg’s Piano Concerto. This historic recording is released while Russian tanks are rolling again, and one hears these sounds of all-embracing, defiant and comforting persuasiveness with different ears…
Le Monde de la Musique

Rezension Le Monde de la Musique Janvier 2001 | Patrick Szersnovicz | January 1, 2001 Première des symphonies de Mahler à utiliser les voix, la Deuxième Symphonie...

Première des symphonies de Mahler à utiliser les voix, la Deuxième Symphonie « Résurrection » (1888-1894) constitue aussi le premier volet d’une trilogie faisant référence aux lieder inspirés du Knaben Wunderhorn. Mahler élabora plusieurs programmes rejetés par la suite, mais l’idée centrale de cette œuvre, peut-être sa plus ambitieuse, n’en reste pas moins le problème de la vie et de la mort résolu par la résurrection, préparée et obtenue de haute lutte. La Deuxième Symphonie, avant la Huitième, fut la plus facilement acceptée du vivant du compositeur. Avec Le Chant de la Terre, c’est l’œuvre avec laquelle on apprend le plus souvent à aimer Mahler.

Après de remarquables Cinquième et Neuvième Symphonies et une splendide Première (« Choc »), toutes trois enregistrées « live », Audite Schallplatten propose un nouvel inédit de ce cycle de concerts Mahler/Kubelik/Radio bavaroise. Plus subtil, plus libre, plus interrogatif et moins uniment fébrile et tragique que dans sa version de studio « officielle » avec le même orchestre. (DG, 1969), Rafael Kubelik, dans cet enregistrement du 8 octobre 1982 réalisé à la Herkulessaal de la Résidence de Munich, offre une vision supérieurement équilibrée (tempos), étonnante de lyrisme et de mystère, malgré une conception d’ensemble plutôt pessimiste. Sa direction épique, dynamique, dégage l’aura fantastique et la profondeur poétique de l’œuvre en offrant une puissance et une unité narrative en situation. Mais Kubelik évite le pathos tout en exaltant le grand souffle, la densité, la variété des coloris. Les transitions, si difficiles à réussir dans cette partition, tiennent du miracle.
Fanfare

Rezension Fanfare May/June 2006 | James Reel | May 1, 2006 Wolfgang Sawallisch recorded all of Schubert’s Masses for EMI with the...

Wolfgang Sawallisch recorded all of Schubert’s Masses for EMI with the Bavarian Radio Symphony Orchestra and Chorus, and with a starry cast of soloists, but I’ll take 1960s Rafael Kubelík over 1970s Sawallisch without hesitation. Kubelík was a consistently interesting conductor, even if he was not consistently successful, and he makes the same Bavarian Radio forces sound more like believers—in Schubert and in God—than did Sawallisch.

This is Schubert’s final Mass, completed just weeks before his death, but there’s no hint of Requiem about it. It’s big and symphonic, but symphonic in the Haydn-Mozart sense; Schubert had to conform to conservative Viennese liturgical strictures that had hardly changed in decades.

Kubelík directs a devotional performance, firm but not overtly dramatic. The soloists are good and the chorus sings well, aside from a few stray moments of unsteadiness (as in the last chord of the Gloria), but its enunciation is often mushy. An example of Kubelík’s apt but gentle touch: the woodwind figures that punctuate the solo vocal passages in the Credo have a lovely Viennese lilt. This is not the most gripping performance imaginable, but it is sensitive and effective.

This disc’s SACD layer includes a version apparently faithful to the original tapes, and a re-mastered version with various unspecified tweakings. The re-mastered version, not the original, is also on the standard CD layer. The re-mastered audio seems closer and more revealing of detail, but it also makes the violins sound a bit harsher. In every case, it’s two-channel sound.

Suche in...

...